[Bozen] Demonstrationsverbote, strikte Vorschriften, mündliche Verwarnungen und Stadtverbote: der neue Quästor Paolo Sartori verfolgt Andersdenkende

BOZEN: Demonstrationsverbote, strikte Vorschriften (prescrizioni) für Demonstrationen, mündliche Verwarnungen (avvisi orali) und Stadtverbote (fogli di via): der neue Quästor Paolo Sartori und die Bozner Politische Polizei verfolgen Andersdenkende

Am Mittwoch, den 17. Juli, beginnen die Insassen des Bozner Gefängnisses mit einem Protestklopfen: mit Töpfen, Tellern und allem, was Lärm macht, wird gegen die Gitterstäbe gehämmert, um sich außerhalb der Gefängnismauern Gehör zu verschaffen, wo nur wenige Meter entfernt die Bozner Bevölkerung ihre Hunde auf der Talferpromenade spazieren führt. Einige Genoss:innen erfahren von dem Protestklopfen und beschließen, vor die Mauern des Gefängnisses zu gehen, um die Gründe für den Protest zu erfahren und sie publik zu machen. Außerdem wollten die Genoss:innen den Gefangenen so ihre Solidarität zeigen und die Isolation der Gefangenen durchbrechen. Sie erfahren, dass das Protestklopfen auch für die kommenden Tagen fortgesetzt werden würde; ein Leintuch mit den Worten: „Mehr Würde, Stopp den Suiziden in den Gefängnissen. Wir sind nicht unser Urteil.“ [“Più dignità, basta suicidi nei carceri. Noi non siamo la nostra colpa”] wird vor die Gitterstäbe gehängt. Bevor sie wieder losziehen erinnern die Genoss:innen daran, dass am Freitag 19. Juli ein solidarischer Gruß für die Gefangenen eingeplant sei, insbesondere um auf die 58 Selbstmorde in den italienischen Gefängnissen und die Krätze-Epidemie im Bozner Gefängnis aufmerksam zu machen.

Gefaengnis Dantestrasse, Bozen: „Mehr Würde, Stopp den Suiziden in den Gefängnissen. Wir sind nicht unser Urteil.“

In einer Bar in der Rosministraße angekommen wird die kleine Gruppe weiterhin von Polizeibeamten, die insbesondere für politische Verfolgung zuständig sind (DIGOS, Anticrimine u.ä.) gefilmt. Etwa eine halbe Stunde später tauchen zwei Streifenwagen vor der Bar auf und teilen den sechs Genoss:innen mit, dass sie sie auf die Quästur mitnehmen würden, wo sie einer erkennungsdienstlichen Behandlung (mugshot/ fotosegnalazione) unterzogen wurden und wegen einer nicht genehmigten Demonstration angezeigt worden sind. Zusätzlich zu diesen Anzeigen wurde einem Genosse aus Bozen, der aktuell in einer Nachbargemeinde wohnt, ein zweijähriges Stadtverbot (foglio di via) aus Bozen erteilt.

Die Dokumente des foglio di via enthalten eine erschreckende Mischung aus falschen und erfundenen Informationen. Der Genosse, welcher der Polizei seit über Jahren bekannt ist, weist die Polizeibeamten darauf hin und bittet sie, diese zu korrigieren, aber sie antworten stotternd: „Wir haben das nicht geschrieben“. Es kann angenommen werden, dass diese Unwahrheiten absichtlich eingefügt wurden, um diese präventive Maßnahme zu rechtfertigen.

Die Voraussetzung für die Anwendung einer solchen Maßnahme ist die soziale Gefährlichkeit des Betreffenden, die „auf der Grundlage von Tatsachen“ nachgewiesen werden soll, aber bei diesen Tatsachen besteht eine enorme Ermessensfreiheit. In der Tat werden in den Dokumenten des foglio di via von der Polizei angefertigte Vorschläge, Berichte, Anzeigen angeführt, für die es nie eine Verurteilung gegeben hat und in den meisten Fällen nicht einmal Ermittlungen zum Abschluss kamen. Daher werden sogar Straftaten, für die man entweder freigesprochen oder nicht einmal angeklagt wurde, vom Quästor als Vorwand für die Ausstellung dieser Präventivmaßnahme genommen, die schwerwiegende Einschränkungen der Freiheit mit sich bringt.

Es handelt sich um einen offensichtlichen Akt der Einschüchterung und der politischen Verfolgung, auf den der Quästor (über den wir bereits in einem früheren Artikel gesprochen haben, den Sie hier lesen können)  zurückgreift, indem er von dem enormen Ermessensspielraum Gebrauch macht (ohne Möglichkeit des Widerspruches oder unmittelbarer Verteidigung), die ihm die Präventionsmaßnahmen einräumen. Sartori fügt sich damit in die Anwendung des Feind- oder Autorenstrafrechts ein, demzufolge das Strafsystem und die Repressionsapparate nicht mehr das verfolgen, was man tut, sondern die Identität des Subjekts, seinen politischen Weg. Nach dieser Theorie (die, wie wir sehen, in die Praxis umgesetzt wird) kann man, um diese wirklichen „Feinde der Gesellschaft“, die durch ein geschicktes Hin und Her zwischen den Medien und den Repressionsapparaten konstruiert und angedeutet werden, zu treffen und zu neutralisieren, von den typischen Regeln des „Rechts“ (und seinen wenn auch begrenzten, willkürlich anwendbaren Garantien) abweichen und typische Regeln des „Krieges“ anwenden, um die Gegner:innen zu neutralisieren.

Sartori, der eine außergewöhnlich starke Medienpräsenz an den Tag legt und mit Hilfe der wichtigsten lokalen Verlagsgruppe dazu beigetragt, dass einige öffentliche Feinde ausgeschaltet werden, wendet diese repressiven Maßnahmen nicht nur für mehr oder weniger schwerwiegende Straftäter:innen an, sondern vor allem auf politische Aktivist:innen, Obdachlose, obdachlose Arbeiter:innen, Migrant:innen ohne gültige Aufenthaltsgenehmigungen und Dokumente usw.

Was nicht auf den von der Polizei ausgestellten Dokumenten steht, aber für jede:n, die/der die Realität sehen will, offensichtlich ist, ist, dass die Präventivmaßnahmen auf die politische Identität und die Teilnahme an Kämpfen und Mobilisierungen in der Stadt zurückzuführen sind.

Das Ergebnis dieser Maßnahme ist mit Sicherheit eine endlose Reihe von persönlichen und familiären Unannehmlichkeiten, da sich das gesamte soziale und familiäre Leben des Genossen in Bozen abspielt.

Diese Polizeimaßnahme ist Teil einer Repressionswelle, von der zahlreiche Genoss:innen betroffen sind, die seit Jahren gegen Krieg und Kapitalismus kämpfen. Insbesondere die Mobilisierung gegen den Genozid in Palästina und das Anpragern der nationalen und lokalen Kompliz:innenschaft daran hat eine Kontinuität und Intensität gefunden, die die Verantwortlichen der Quästur offensichtlich erbost hat. In diesem Zusammenhang wurde am 24.7.2024 einem Genossen aus Trient, der an einer Demonstration teilnahm, die im Laufe des Demoverlaufs kurzzeitig den Bahnhof besetzte, ein vierjähriges foglio di via für Bozen ausgestellt.

Nach der Demonstration gegen die Abtreibungsgegner:nnen Bewegung für das Leben am 15. Juni vor dem Bozner Krankenhaus erhielten dagegen zwei Genoss:innen aus dem Raum Brixen fogli di via für Bozen (für drei Jahre!). Dieser Akt der Repression ist als Teil einer politischen Verfolgung zu werten, die sich gegen die Teilnahme an den antimilitaristischen, antikapitalistischen und queerfeministischen Kämpfen und Mobilisierungen in der Provinz richtet, welche gedanklich und faktisch an der effektiven Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse arbeiten und diese Aufgabe nicht an andere delegieren.

In den letzten Monaten haben zusätzlich zu den fogli di via mindestens fünf weitere Genoss:innen eine mündliche Verwarnung vom Quästor erhalten. Formal handelt es sich dabei um eine „Aufforderung zur Verhaltensänderung“, die an die als „sozial gefährlich“ eingestufte Person gerichtet ist. Diese Maßnahme, die keine tatsächliche Einschränkung der persönlichen Freiheit mit sich bringt, enthält jedoch die Androhung eines Antrags auf Spezialüberwachung (sorveglianza speciale, was einer Form des Hausarrests ähnelt) durch den Quästor.

Auch hierbei handelt es sich um ein Ermessensinstrument, das von der Polizeidirektion Bozen mit großer Unbekümmertheit eingesetzt wird. Welches Verhalten sollte geändert werden? Es ist klar, dass die ständige Mobilisierung zu verschiedenen Themen in der Stadt in den letzten Jahren diejenigen verärgert hat, die eine allgemeine Resignation von Seiten der subalternen und proletarischen Klasse wünschen um so eine „öffentliche Ordnung“ zu gewährleisten, die jenseits von Demonstrationen, Kundgebungen und über das Megafon verstärkte Redebeiträge – die die italienische Regierung für den Genozid in Gaza, den Russland-Nato Krieg in der Ukraine, die Selbstmorde in den Gefängnissen, oder die Unterstützung der sogenannten Pro-Life-Bewegungen zur Verantwortung ziehen -, verläuft.

Warum setzt Sartori Präventivmaßnahmen so skrupellos ein (und propagiert sie in den Medien so nachdrücklich)?

Weil die Präventivmaßnahmen für das von Sartori in den Medien verwendete Narrativ dienlich sind. Auf die Wahrnehmungen der Menschen einwirken, konsumierbare Informationen und Nachrichten in den sozialen Netzwerken bereitstellen, schnelles Lob einheimsen, Probleme unter den Teppich kehren und eher die Folgen als die Ursachen von Problemen bekämpfen. Den Eindruck erwecken, dass sich etwas geändert hat, während das Leben der Menschen in Wirklichkeit immer schwieriger wird, weil die Mieten erdrückend sind, medizinische Behandlungskosten in die Höhe schnellen und die Löhne nicht ausreichen. Wie bereits in einem früheren Artikel geschrieben wurde: „Die Menschen haben Hunger? Gebt ihnen einen Sartori, der fogli di via und avvisi orali verteilt“.

Diese Maßnahmen zeichnen sich durch besonders schnelle Antragsverfahren aus, die es ermöglichen, sie innerhalb kurzer Zeit (meist innerhalb weniger Minuten, wie viele Fälle zeigen) zu verhängen. Dabei wird die Beweislast in erheblichem Maße auf das „vorgeschlagene“ Subjekt verlagert und eine vorherige gerichtliche Prüfung der tatsächlichen Begehung von Straftaten durch die Empfänger:innen außer Acht gelassen. Da es sich bei den Betroffenen dieser Maßnahmen überwiegend um Proletarier:innen oder Lumpenproletarier:innen handelt, versteht es sich von selbst, dass es für viele, auch aus finanziellen Gründen, fast unmöglich ist, Klage einzureichen und einen Anwalt, Gerichtskosten usw. zu bezahlen. Es handelt sich also um schikanöse und willkürliche Maßnahmen (es gibt keine unmittelbare gerichtliche Kontrolle), die für den Quästor keinerlei Verpflichtungen und/oder Kosten mit sich bringen, während sie bei den Betroffenen, insbesondere im Falle der fogli di via, darauf abzielen Beziehungen und das Soziale Leben einzuschränken und zu zerstören.

Die fogli di via und die avvisi orali, die unseren Genoss:innen in Südtirol erteilt wurden, stellen einen schwerwiegenden Akt politischer Repression dar, der sich in ein allgemeines Klima der Einschüchterung und Kriminalisierung politischen Dissens – insbesondere wenn er von unten kommt -, einfügt. Dadurch will man diejenigen abzuschrecken, die gegen den Krieg, den Genozid in Gaza und ganz allgemein für die Forderungen der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen kämpfen wollen. Wir dürfen nicht vergessen, wie die Polizeiquästuren in ganz Italien in den letzten Jahrzehnten dieses Instrument massiv eingesetzt haben, um die Kämpfe der NO TAV-Bewegung zu unterdrücken und die Basisgewerkschaften, insbesondere die Arbeiter:innen von SICOBAS, zu zermürben. Oder, in jüngerer Zeit, gegen die Umweltbewegung Extinction Rebellion, der in ganz Italien – neben den in Kraft getretenen Ad-hoc-Gesetzesmaßnahmen -, Hunderte Anzeigen und fogli di via ausgestellt wurden, sowie von betroffen war.

Neben diesen präventiven (oder besser gesagt repressiven) polizeilichen Maßnahmen muss daran erinnert werden, dass sich der Quästor Paolo Sartori am 28. Juni 2024 einer weiteren schwerwiegenden repressiven Maßnahme bedient hat, die zumindest in den letzten zwei Jahrzehnten in der Stadt keinen vergleichbaren Präzedenzfall hat: Er verbot die Pride-Demonstration PRIOT, die durch die Straßen des Stadtzentrums hätte verlaufen sollen, aber stattdessen durch einen massiven Einsatz der mobilen Einheiten der Polizei gezwungen wurde, im Park des Bozner Bahnhofs zu bleiben. Die Gründe für solche Verordnungen? Die öffentliche Ordnung ça va sans dire!

Es ist wichtig, dass alle wissen, was in dieser Stadt geschieht. Diese Machtmissbräuche und Einschüchterungsversuche gegen die Menschen die kämpfen dürfen nicht so hingenommen werden. Wir müssen das Schweigen brechen und uns solidarisch zeigen.

Es muss klar sein, dass diese repressiven Maßnahmen alle und jede:n betreffen.

Die beste Antwort darauf ist die Fortsetzung des Kampfes gegen den Genozid am palästinensischen Volk und gegen das Abdriften in einen globalen Konflikt, in den uns auch die italienische Regierung hineinzieht. Gegen Rassismus und Ausbeutung.

Nehmen wir am Freitag, den 26. Juli alle an der Kundgebung im Bahnhofspark Bozen teil. Prangern wir die Repression an, von der unsere Genossen und Genossinnen betroffen sind! Stoppen wir den Völkermord am palästinensischen Volk! Stoppen wir den Krieg gegen Andersdenkende, der von der Bozner Polizeidirektion geführt wird.

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